Die Freiheit zur Liebe

Wissen Sie, was wir am 31. Oktober feiern? Die Jüngeren würden jetzt wohl antworten: „Ja klar: Halloween!“ Tja, würde ich als Pastor zurückmelden, da ist augenscheinlich etwas aus dem anglo-amerikanischen Bereich zu uns rübergeschwappt, was bei uns gar keine Verwurzelung hat. Oder können Sie etwas mit dem „All Hollows‘ Eve“ anfangen? Das nämlich ist „Halloween“.

Nein, am 31. Oktober feiern wir das Reformationsfest. Immerhin ist der Reformationstag seit 2020 in Schleswig-Holstein nicht nur ein kirchlicher, sondern auch ein staatlicher Feiertag – und damit für alle arbeitsfrei.

Am Reformationstag erinnern wir uns an Martin Luther, an seine reformatorische Erkenntnis, die er in den berühmten 95 Thesen zusammengefasst hat und am Vorabend des katholischen Festes Allerheiligen – eben an All hollows‘ Eve – an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg genagelt haben soll.

Luthers „Pforte zum Paradies“ hatte er durch das Lesen der Briefe des Apostels Paulus gefunden und dabei Sätze entdeckt wie: „Der Gerechte wird aus Glauben leben“ (Römer 1,17) und „Zur Freiheit hat uns Christus befreit“ (Galater 5,1).

Diesen letzten Satz schreibt Paulus an kleine christliche Gemeinden in der Landschaft Galatien in der heutigen Türkei. Zur Freiheit hat uns Christus befreit, das ist sozusagen das Programm des Paulus. Er anerkennt einerseits, dass Menschen unterschiedlicher Herkunft auch in verschiedenen Zwängen leben. Aber dann geht er darüber hinaus und behauptet eine Freiheit, die größer ist als unser Herkommen und unsere Zwänge. Paulus selber glaubt das. Er kennt seine Zwänge: seine jüdische Herkunft, die Krankheiten seines Körpers; dennoch geht er darüber hinaus und sagt: Christus macht mich frei. Er schenkt mir kein anderes oder besseres Leben, er schenkt mir aber in meinem Leben eine innere Freiheit.

Luther hat diese Freiheit, die Gott uns zuspricht, gesucht und in den Sätzen des Paulus gefunden – Sätze, die die Zeit überdauern, Sätze, die nicht vergehen. Davon spricht auch ein Gedanke des Schriftstellers Elias Canetti. Er ist in einer jüdischen Familie im heutigen Bulgarien geboren, aber durch die Kriege im 20. Jahrhundert in Wien, London und Zürich aufgewachsen, wo er dann auch später lebte. Seine liebste Sprache war und blieb Deutsch. 1981 erhielt er den Literaturnobelpreis. In seinen Aufzeichnungen steht der Satz: „Es kann jeder Satz seine Wirkung tun, auch der vergessenste, auch in tausend Jahren.“ – Ich denke, dass Canetti recht hat und er mit diesem Gedanken auch die Verkündigung des Evangeliums berührt. Es mag sein, dass vieles an der Botschaft der Kirche vergessen wird oder untergeht; ihre Wirkung aber kann kommen oder wiederkommen, auch noch in vielen Jahren.

Unsere Kirche lebt nicht, weil sie diese oder jene Gestalt hat, weil sie Dome oder Gemeindehäuser oder Diakoniestationen hat. Das alles ist wichtig und hilfreich, aber zuletzt keine Hilfe zum Überleben der Kirchen. Unsere Kirche lebt, weil sie eine einzigartige Botschaft hat. Man kann sie vergessen, man kann aber ihre Wirkung nie völlig unterdrücken. Ein Satz dieser einzigartigen Botschaft ist von Paulus: Zur Freiheit hat uns Christus befreit.

Glaubende Menschen ahnen oder wissen, dass sie – bei allen ihren Zwängen oder Verhinderungen oder Bequemlichkeiten – die eine große Freiheit haben, und zwar immer wieder haben und haben werden: die Freiheit zu lieben. Die Kirchen in der Welt leben von ihren Liebenden; also von den Menschen, die Gottes Botschaft ernst nehmen und seinen Willen zur Liebe erfüllen. Und das gerne und mit ganzem Herzen. Jede Liebe ist eine Erneuerung der Welt.

Daran wollen wir uns immer wieder erinnern – erst recht am Reformationstag.

Ihr Ralf Pehmöller, Pastor

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