Der Waldgottesdienst

Ab und an gehe sogar ich in den Gottesdienst, doch mitunter ist das kleine Kind anderer Meinung und möchte lieber nicht. Oder nicht so lange. Als es mich neulich im Kindergottesdienst (!) nach drei Minuten fragte „Wie lange noch?“, war ich einigermaßen erschüttert. Wie ist’s erst im normalen Gottesdienst! Ein Gottesdienst im Wald ist vielleicht genau das Richtige, dachte ich, denn immerhin ging das kleine Kind eine Zeit lang in den Waldkindergarten und ist gerne draußen. Außerdem konnte ich beiden Kindern Kuchen versprechen, den es im Anschluss geben sollte, denn Waldgottesdienst ist nur alle zwei Jahre und etwas Besonderes.

Das große Kind musste ich sowieso nicht überreden noch mit Kuchen locken, es ist gerne dabei und eifrig bei der Sache, und wenig später steht es im Wald vor dem Andachtsplatz neben dem Küster, beide mit den Liederzetteln, ja, man muss schon sagen: bewaffnet: Kaum nähern sich erwartungsfrohe Gottesdienstbesucher, springt mein Kind ihnen eifrig entgegen und nötigt ihnen einen Liederzettel auf. Irgendwann aber sind die kleinen Hände leer und der Küster hat seine Hände noch voll.

Der Gottesdienst beginnt: Die Sonne scheint, der Posaunenchor spielt, die Gemeinde singt ein Lied, die Pastorin spricht ein Gebet, „Papa, schläfst du jetzt?“, fragt das kleine Kind. Ein Häher fliegt durchs Bild.
Dann werden drei Kinder getauft. Ich mag es ja nicht, wenn im Gottesdienst fotografiert und gefilmt wird. Das Heilige, wenn es denn schon mal da ist, kann man sowieso nicht fotografieren, jedenfalls habe ich es noch nie auf Bildern gesehen. Und die Suche nach dem optimalen Ausschnitt des waldigen Andachtsplatzes im Display lenkt doch nur ab und stört die Aufnahmefähigkeit. Vor allem stört es meine Aufnahmefähigkeit, wenn schräg gegenüber während der Taufe eine Frau gleich zwei Kameras gleichzeitig in die Höhe hält, leicht irrenden Blickes hin und her. Mein Blick irrt hin und her. So etwas habe ich noch nicht einmal von Japanern auf der letzten Hafenrundfahrt gesehen. Was wäre wohl, wenn die Frau drei Arme hätte?

Allerdings ist meine Aufnahmefähigkeit des Heiligen jetzt sowieso etwas eingeschränkt, denn das kleine Kind möchte Bagger spielen. Das geht so: Es sitzt auf meinem Schoß, ich muss meine Fäuste auf seine Knie legen, die Daumen in die Höhe gestreckt. Das kleine Kind ergreift diese Daumen und hebelt sie hin und her und macht dazu allerlei relativ durchdringende Geräusche, entfernt an einen Bagger erinnernd. Doch ich bin heute unwillig. Nicht wegen des komischen Geräusches im linken Daumen letzte Woche, vielmehr möchte ich dem Gottesdienst folgen.

Das kleine Kind sucht ein wenig auf dem Boden herum nach Alternativen und findet schließlich, was es braucht: Ein gebogenes Stöckchen, dass einen wunderbaren Hebel abgibt. Gibt übrigens auch eine wunderbare Pistole ab, aber das kam erst später.
Die Gemeinde singt noch ein Lied, Radfahrer fahren auf dem Waldweg vorbei. Manche fahren weiter, manche bleiben sogar stehen und halten inne, allerdings ziemlich weit weg, es sieht so aus, als ob sie Angst haben vor Christen.
Dann spielt wieder der Posaunenchor und ein frühes herbstbraunes Blatt segelt vom Himmel herab. Aber es ist ein so schöner Sonntag, ich glaube, es war noch ein altes aus dem letzten Herbst, dass sich in einer Astgabel festgehalten hat.

Endlich hat der Herr ein Einsehen, der Gottesdienst ist zu Ende, das kleine Kind flitzt los: Alle Großen bekommen Kaffee und Kuchen, alle Kleinen bekommen Kuchen und Kuchen, und die Sonne scheint immer noch durch das grüne Blätterdach.
Man plaudert miteinander, das kleine Kind tobt durch den Wald in ungefährer Rufnähe. Irgendwann sind die meisten Kaffeetassen geleert, die Kuchenbleche verwaist. Ich blicke mich um. Auf dem Podest beim Altar sitzt mein großes Kind, hat die Gitarre der Mutter auf dem Schoß und spielt ganz allein vor sich hin.

Was so ein großes Kind wohl denkt.

Rainer Kolbe

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